Als Blinder studieren in Oldenburg

Ein Erfahrungsbericht 

Nach bestandenem Abitur an der Carl-Strehl-Schule der Deutschen Blindenstudienanstalt (BLISTA) in Marburg entschied ich mich 1998 nach einer gründlichen Vorbereitung in der Stadt Oldenburg in Oldenburg ein Studium zu beginnen. Der Hauptgrund für diese Wahl lag im Studiengang, denn Betriebswirtschaftslehre mit Juristischem Schwerpunkt wird außer in Oldenburg nur an einigen Fachhochschulen im südwestdeutschen Raum angeboten. 

Zu Beginn des Studiums mussten zunächst drei wesentliche Voraussetzungen geschaffen werden, die Teilnahme an den Lehrveranstaltungen, die Suche nach einer geeigneten Wohnung und die Sicherstellung eines gewissen Maßes an Mobilität, um mich in der neuen Stadt zurechtfinden zu können. 

Bei der Organisation dieser Dinge half mir vor allem die damalige Behindertenbeauftragte der Universität, Frau Jenny Thimm, die heute nicht mehr an der Uni tätig ist. Sie beschaffte mir viele notwendige Informationen, stellte den Kontakt zu einer Orientierungslehrerin her und sorgte u.a. dafür, dass eine akustische Ampel auf einer für mich wichtigen Straßenkreuzung aufgestellt wurde. Heute kann man sich an die Behindertenberaterin des Studentenwerks, Frau Wiebke Hendeß wenden, die diese Aufgaben auch mit großem Engagement ausfüllt. Eine adäquate Wohnung war schnell gefunden. Ich wohne seit 1998 in einem Studentenwohnheim, das nur ca. 10 Minuten Fußweg von der Uni entfernt ist. Dort gibt es viele WGs für zwei, drei oder vier Bewohner. Bis zum Jahr 2000 wohnte ich mit drei anderen Studenten zusammen. Nach meinem einjährigen Auslandsaufenthalt zog ich im Jahr 2001 wieder dort ein und wohne seitdem in einer 2er-WG. Es gab wegen meiner Behinderung mit den jeweiligen Mitbewohnern nie Probleme, was ich an dieser Stelle einmal lobend erwähnen möchte. Die kurze Entfernung zur Uni habe ich schnell schätzen gelernt. Abschließend betrachtet kann ich sagen, dass die Entscheidung in ein Wohnheim zu ziehen für mich von großem Vorteil war, da ich bei einer privaten Unterbringung sicherlich nicht so schnell so viele Kontakte zu anderen Studenten gefunden hätte.

Für die erfolgreiche Teilnahme an den Lehrveranstaltungen entwickelte ich im Grundstudium schnell eine recht erfolgreiche Strategie. In der zweiten Vorlesungswoche des jeweiligen Semesters ging ich in die Sprechstunden der betreffenden Dozenten und legte ihnen meine Situation dar. Ich stieß immer auf viel Verständnis und es konnten fast immer Lösungen für auftretende Probleme gefunden werden. Eine große Unterstützung erfuhr ich auch durch Herrn Kenkel vom Prüfungsamt, womit die Durchführung der relevanten Prüfungen immer gesichert war. Ab einem gewissen Zeitpunkt konnte ich nicht auf einen Studienhelfer verzichten, da die zu erfassenden Sachverhalte immer komplexer wurden und deren Menge ständig wuchs. Bei der Suche einer geeigneten Person für diese Aufgabe half mir die psychologische Beratungsstelle der Uni. Die erste Studienhelferin zog zu meinem Bedauern nach meinem Vordiplom nach Hannover, so dass ich mich für das Hauptstudium nach einem adäquaten Ersatz umsehen musste. Dieses Mal konnte ich die Suche selbständig durchführen, da ich jetzt genau wusste, welche Aufgaben zu bewältigen sein würden und welche Qualitäten ein geeigneter Helfer für den Rest meines Studiums mitbringen müsste. Hierzu zählen z. B. gut leserliche Schrift, Zeit für die Begleitung in Veranstaltungen, eine gute Lesestimme u. ä. Die Finanzierung eines solchen Studienhelfers übernimmt normalerweise die Eingliederungsstelle des jeweils zuständigen Sozialamtes. 

Rückblickend betrachtet muss ich sagen, dass ich es ohne diese beiden fleißigen Helfer wohl nicht geschafft hätte. Hervorzuheben ist auch die Tutorin meiner Orientierungswoche, Friederike Germer, die mir während meines gesamten Studiums, auch als sie selbst ihr Studium beendet hatte, immer mit Rat und Tat zur Seite stand und mit der ich mittlerweile auch gut befreundet bin. Trotz dieser Hilfen wurde die effektive Teilnahme an den Lehrveranstaltungen im Hauptstudium immer schwieriger, das lag vor allem daran, dass die entscheidenden Sachverhalte zunehmend durch Graphiken und Formeln vermittelt wurden, die ich während der Veranstaltungen oft nur schwer und manchmal überhaupt nicht verfolgen konnte. Hierbei kam mir jedoch der Umstand zu Hilfe, dass es sich bei der Uni in Oldenburg um eine relativ kleine Uni handelt. Somit war ein guter Kontakt zu den Dozenten gegeben und es konnten immer Lösungen für auftretende Probleme gefunden werden, z.B. wurden mir die Folien oder Übungsaufgaben per e-mail geschickt, so dass ich sie in Ruhe zu Hause vor- und nachbereiten konnte. Auch fanden sich immer hilfsbereite Kommilitonen, von denen ich erforderliche Materialien kopieren konnte. Auch hatte ich nie Probleme, in Arbeits- und Lerngruppen aufgenommen zu werden, und meiner Behinderung gegenüber waren immer alle sehr tolerant und verständnisvoll. 

Bei der Sicherstellung der erforderlichen Mobilität gab es zunächst ein großes Problem. Obwohl ich schnell eine Orientierungslehrerin aus der Nähe von Bremen gefunden hatte, weigerte sich meine Krankenkasse hartnäckig, die hierfür entstehenden Kosten voll zu übernehmen. Dieser Streit ging so weit, dass ich die Krankenkasse verklagen musste, bis sie endlich zur Kostenübernahme bereit war. Glücklicherweise war die Mobilitätslehrerin bereit, den Unterricht auch bereits während der Finanzierungsungewissheit durchzuführen. So lernte ich nach und nach die Straßen, Plätze und wichtigen Gebäude von Oldenburg kennen. Hierbei ist zu erwähnen, dass sich für Blinde im Bereich Straßenverkehr seit meinem Zuzug in die Stadt eine Menge getan hat. Es gibt mehr und mehr akustische Ampelanlagen, außerdem wurden bei allen Neubauten der letzten Jahre, z.B. dem Bahnhof, entsprechende Leitstreifen in das Pflaster integriert. Alle Busse sind mit akustischen Haltestellenansagen ausgestattet und die Busfahrer sind meistens recht hilfsbereit. Nach vielen, auch nächtlichen, Orientierungsunterrichtsstunden habe ich Oldenburg nach und nach kennen gelernt und fühle mich mittlerweile hier sehr wohl. 

Neben diesen drei zentralen Voraussetzungen für ein Gelingen des Studiums sind auch noch andere Dinge, wie z. B. Freizeitgestaltung zu erwähnen. Zu meiner Überraschung konnte ich meinem großen Hobby, dem Reiten, über den Unisport nachgehen. In dem zuständigen Reitstall war man zunächst sehr überrascht, jedoch konnte ich dank der zuständigen Reitlehrerin in die dortigen Gruppen problemlos integriert werden. Auch ging ich regelmäßig im Unibad schwimmen. Auch wenn dies nur in geschlossenen Kursen möglich war, hat es viel Spaß gemacht. Hinzu kamen Kinobesuche, Kneipengänge und vieles mehr. Auch wurde es mir ermöglicht, für zwei Semester in die USA zu gehen, was für mich eine herrliche Erfahrung war, von der ich jetzt noch zehre. Bis heute bestehen noch Kontakte zu Studenten auf der ganzen Welt, die ich in Colorado kennen gelernt habe. 

Ein ständiger Anlaufpunkt in der Uni war für mich das Autonome Behindertenreferat im AStA, in das ich mich, so gut es das Studium zeitlich zuließ, einzubringen versuchte. Dieses ist eine sehr sinnvolle Institution, die noch mehr von behinderten Studenten wahrgenommen werden sollte. So haben wir es z.B. geschafft, dass in der Unibibliothek einige behindertenge- rechte Computerarbeitsplätze eingerichtet wurden, und viele weitere Projekte auf die Beine gestellt. Und selbstverständlich ist auch das leibliche Wohl nicht zu vergessen. Hierzu ging ich regelmäßig in die Mensa des Studentenwerks, wo einem freundliche Küchenfrauen stets behilflich waren, das Essen sicher an einen freien Platz zu bekommen. Alles in allem waren es sehr schöne und interessante fünf Jahre, die ich nicht vergessen werde. Jetzt habe ich mein Diplom und stürze mich in diesem Jahr ins nächste Abenteuer: ein Jahr Studium in Sydney, Australien. Im Anschluss daran hoffe ich einen Arbeitsplatz zu finden und ich wäre froh, wenn alles weiterhin so gut klappt wie in meinem Studium. Rückblickend betrachtet ist sowohl die Uni als auch die Stadt Oldenburg für ein Studium – auch als Blinder oder Sehbehinderter – sehr zu empfehlen. 

 

Jochen Dreher 

Februar 2004